Bild vom kompetenten Kind

Das Bild vom kompetenten Kind bleibt nicht theoretisch, es wird in unseren Handlungen lebendig. In der Art, wie wir Kinder begrüßen, wie wir zuhören, wie wir Entscheidungen teilen und wie wir Lernräume gestalten. Kinder brauchen Erwachsene, die bereit sind, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören und zu begleiten statt zu bewerten.

Wichtig: Kinder verdienen es, von Anfang an als kompetent gesehen zu werden, ihre Stärken anzuerkennen, sie zu verstehen und sie in ihrem Tun zu unterstützen.

Unser Bild vom kompetenten Kind ist der unsichtbare Kompass, der unsere innere Haltung prägt. Wie wir beobachten, sprechen, begleiten und entscheiden. In der Reggio-Pädagogik steht die Überzeugung im Mittelpunkt, dass Kinder von Beginn an kompetente, forschende und aktive Menschen sind. Sie müssen nicht erst zu etwas werden, denn sie sind es bereits. Kompetenz zeigt sich dabei nicht nur im sichtbaren Können, sondern in der Stärke, mit der Welt in Beziehung zu treten, z.B. zu fragen, zu handeln, zu gestalten und Sinn zu schaffen.

Eine moderne Pädagogik erkennt diese bereits vorhandenen Kompetenzen jeden einzelnen Kindes an. Sie verabschiedet sich von defizitorientierten Blicken und ersetzt sie durch Vertrauen. Erwachsene werden zu Begleiter:innen, nicht zu Lenker:innen. Diese Haltung ist kein „Zusatz“, sondern die essenzielle Grundlage professioneller Beziehungen zu Kindern, die sie in unserer heutigen Welt unbedingt benötigen.

Kompetenz bedeutet im pädagogischen Sinne weit mehr als Wissen oder Fertigkeiten. Sie beschreibt die Fähigkeit des Kindes, mit sich selbst, weiteren Mitmenschen und der Umgebung in Resonanz zu treten. Kinder kommunizieren, entscheiden, hinterfragen, stellen Hypothesen auf und gestalten von Anfang an ihre Lernprozesse aktiv mit. Sie zeigen in jeder Handlung, dass sie ihre Welt verstehen wollen und das in ihrem eigenen Tempo und Weise.

Pädagogische Professionalität bedeutet, diese Ausdrucksformen zu erkennen und ihnen Raum und Zeit zu geben.

Unsere Worte und Beobachtungen sind Fenster zu unserem Kinderbild. Sprache schafft Wirklichkeit, ob wir sagen „Das Kind kann das noch nicht“ oder „Das Kind ist dabei, etwas zu entdecken“, macht einen entscheidenden qualitativen Unterschied. Eine Sprache des Vertrauens öffnet Räume für individuelle Entwicklung.

Unsere Haltung zum kompetenten Kind zeigt sich in jedem Wort, in jedem Blick und in jeder Geste. Wenn wir davon überzeugt sind, dass Kinder Forscher:innen, Gestalter:innen und Sinnsuchende sind, dann verändert sich automatisch auch unsere Art zu sprechen und zu beobachten. Wir beginnen, Kinder nicht mehr zu bewerten, sondern zu verstehen. Wir hören genauer hin, nehmen feine Nuancen wahr und erkennen Bedeutung in dem, was zunächst unscheinbar wirkt.

Kinder sind Akteur:innen ihres eigenen Lernens. Sie handeln nicht zufällig, sondern mit innerer Logik, mit Absicht und Neugier. Wenn wir das anerkennen, entsteht eine Atmosphäre, in der Lernen aus Beziehung wächst.

Reggio-inspiriertes Beobachten richtet den Blick nicht auf Defizite, sondern auf die Prozesse, Ausdrucksformen und Kompetenzen, die sich zeigen.
Sie ist neugierig, offen und verstehend. Wenn wir so hinschauen, entdecken wir die „hundert Sprachen“ der Kinder, ihre vielfältigen Ausdrucksformen, mit denen sie forschen, denken und fühlen. Diese Art des Beobachtens fordert Achtsamkeit und schenkt uns einen ehrlichen, respektvollen Blick auf die kindliche Entwicklung.

Eine Haltung, die Kinder als kompetent sieht, erkennt in jedem Verhalten eine Botschaft, in jedem Spiel eine Idee und in jedem Moment eine Möglichkeit, die Welt zu begreifen.

Das Bild vom kompetenten Kind ist keine Methode, die einmal erlernt wird. Es ist eine Haltung, die wächst, sich entwickelt und immer wieder reflektiert werden will.

Diese Haltung verändert auch Teamprozesse. Wenn ein Team ein gemeinsames Verständnis vom Bild des kompetenten Kindes entwickelt, entsteht eine bewusste Qualität im Bereich der Sprache, Reflexion und Zusammenarbeit. Pädagogische Diskussionen werden offener, wertschätzender und forschender. Der Blick richtet sich nicht auf das, was ein Kind vermeintlich „nicht kann“, sondern auf das, was es ausdrückt, ausprobiert oder erkundet.

Hier sind ein paar Beispiele, die wirkungsvolle Alternativen aufzeigen:

Aus „Das Kind stört die Gruppe“ wird „Das Kind sucht gerade seinen Platz in der Gemeinschaft.“
Aus „Das Kind hört einfach nicht zu“ wird „Vielleicht braucht es gerade eine andere Form der Ansprache.“
Aus „Das Kind ist unkonzentriert“ wird „Das Kind folgt seiner eigenen Spur. Was beschäftigt es wohl gerade?“
Aus „Das Kind spielt immer dasselbe“ wird „Das Kind vertieft sich. Es erforscht, wiederholt und verfeinert seine Erfahrung.“

Solche bewussten und wertschätzenden Sätze verändern die Haltung im gesamten Team. Sie öffnen Räume für Verständnis statt Bewertung.

Die nachfolgenden Reflexionsfragen laden dazu ein, nachzudenken und bei sich selbst zu bleiben. Sie helfen, unbewusste Routinen zu erkennen. Sie ermöglichen Raum für Veränderung, hin zu einer Pädagogik, die auf Beziehung, Vertrauen und echtem Lernen basiert.


Wie würde ich mein eigenes Bild vom kompetenten Kind beschreiben? Welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Potenziale erkenne ich darin?

Wann gelingt es mir, die Kompetenz eines Kindes wirklich zu sehen auch dann, wenn sein Verhalten mich herausfordert?

Kompetenz ist kein Ziel, das Kinder erst erreichen müssen.
Unsere Aufgabe ist es, sie zu sehen, zu stärken und sichtbar zu machen.
Wenn uns das gelingt, entsteht eine Pädagogik, die Kinder nicht formt, sondern begleitet und in der Erwachsene ebenso viel lernen wie die Kinder selbst.

* Tassilo Knauf, „Reggio-Pädagogik: kind- und bildungsorientiert“, Das Kita-Handbuch, 2021, www.kindergartenpaedagogik.de

* Jesper Juul und Knut Krüger, „Dein kompetentes Kind, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2022, worldcat-Link